… mit ME, LongCovid und verwandten Krankheiten ist eines der Themen, bei denen es schwer zu glauben ist, wie schlimm die Zustände sind.
Es ist für Menschen mit ME sehr schwierig, eine angemessene medizinische Versorgung zu finden.
Das liegt zunächst mal daran, dass die Krankheit in der Ausbildung von Ärzt*innen nicht vorkommt und die Betroffenen damit häufig falsch behandelt werden. Oft werden ihre Beschwerden als psychisch gedeutet, oder es wird ihnen gar nicht geglaubt, und sie werden zu Aktivierungsmassnahmen ermutigt, die zu Verschlechterungen des Befindens führen können.
Dieser Mangel an Wissen und die dadurch bedingten Gefahren ist eigentlich Stoff für einen separaten Post.
Hier soll es erstmal einfach um die Logistik gehen:
Da ist mal der erste Punkt, dass ME die Kommunikation und das Vereinbaren von Terminen extrem erschweren kann, wenn z. B. der Tag-Nacht-Rhythmus von Betroffenen sehr verdreht ist, oder sie Schwierigkeiten mit Geräuschen oder Bildschirmen haben.
Dann ist es derzeit nicht immer einfach, überhaupt eine*n Hausärzt*in zu finden. Gerade Ratschläge wie der, den Suchradius zu erweitern, wenn die Praxen in der Gegend keine Patient*innen mehr aufnehmen, sind bei einer Erkrankung wie ME nicht mal eben zu befolgen.
Weiterhin höre ich zahlreiche Geschichten davon, dass Hausärzt*innen ihre ME-betroffenen Patient*innen weggeschickt, bzw. die Zusammenarbeit mit ihnen beendet haben. Die Gründe sind sicher vielfältig, und ich finde es im Prinzip richtig, dass Behandelnde nicht dazu gezwungen werden, Menschen zu behandeln, mit denen sie keine gute Basis haben. Gleichzeitig können sich viele Patient*innen des Eindrucks nicht erwehren, dass sie nicht mehr behandelt werden, weil sie als chronische Fälle zu viel Zeit oder Budget in Anspruch nahmen oder weil die Behandelnden sich nicht mehr dem Gefühl aussetzen wollten, nicht helfen zu können.
Wie dem auch sei: Ohne Hausärzt*in dazustehen ist mit einer so heftigen chronischen Erkrankung sehr schwierig.
Selbst, wenn man aber auf dem Papier eine*n Hausärzt*in hat, findet oft keine wirkliche Versorgung statt. Schwerer Betroffene sind oft hausgebunden, Hausbesuche von Arzt oder Ärztin sind dagegen selten, obwohl die Pflicht dazu besteht, wenn der/die Patient*in die Praxis nicht erreichen kann. An dieser Stelle werden Ärzt*innen, die die Krankheit nicht kennen, in Frage stellen, ob das überhaupt der Fall ist, und es ist kann auch in diesem Zusammenhang für den Arzt/die Ärztin attraktiv sein, die Zusammenarbeit zu beenden, da damit auch die Pflicht zum Hausbesuch wegfällt.
Die Alternative, den ärztlichen Bereitschaftsdienst anzurufen, ist normalerweise auch keine gute, weil die Wahrscheinlichkeit, dort an Menschen zu geraten, die die Krankheit nicht kennen, sehr groß ist. Zu den Gefahren davon: Siehe oben.
Hausbesuche vom Facharzt finden noch seltener statt und scheinen fast nur vorzukommen, wenn man auch persönlich bekannt ist.
Das bedeutet, dass komplexere Gesundheitsthemen, die fachärztlichen Rat erfordern, ab einer gewissen Schwere der Krankheit gar nicht mehr stattfinden. Ja, richtig gelesen: Bei schwererer Krankheit weniger medizinische Zuwendung. Logisch.
Daneben gibt es zu ganz vielen Vorsorgeuntersuchungen, die wir oft als selbstverständlich ansehen, keinen Zugang. Keine regelmäßigen Check-ups bei GynäkologIn, Haut- oder Zahnärzt*in, und im Normalfall auch keine Möglichkeit, im eigenen Bett behandelt zu werden. Ich weiß nicht, was schwer Betroffenen machen, die starke Zahnschmerzen haben. Das war eins von Siljas Horrorszenarien.
ME-Patient*innen haben außerdem statistisch ein erhöhtes Krebsrisiko, so dass auch im Hinblick darauf der Mangel an Vorsorge furchtbare Konsequenzen haben kann.
Und dann müssen wir uns auch noch klarmachen, was ein Arztbesuch für Betroffene bedeutet: Bei vielen beginnen die Probleme schon damit, dass sie jemanden organisieren müssen, der der Ärztin/dem Arzt die Tür öffnet und sie hereinbegleitet. Dann besteht eine erhöhte Infektanfälligkeit, d.h. es wäre toll, den/die Behandler*in zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes zu bewegen – und das kann schon bei vielen Ärzt*innen Ablehnung verursachen, oder zumindest Skepsis, die Person würde übertreiben.
Und – auch das ist Stoff für einen eigenen Post – man darf als BetroffeneR auf keinen Fall als zu ängstlich oder vorsichtig rüberkommen, aus Angst, dass dann Beschwerden nicht ernstgenommen und auf die Psyche geschoben werden.
Wenn wir jetzt unseren hypothetischen Arztbesuch chronologisch weiterbetrachten, ist der/die Behandelnde zumindest schon mal im Krankenzimmer angekommen. Dann gilt es, trotz und mit der Abdunklung und möglichst in Stille zu arbeiten – oder die Betroffenen müssen Überstimulation und die damit verbundenen Symptome aushalten, wenn der Arzt/die Ärztin zum Thema nicht informiert ist oder das nicht akzeptiert.
Ich höre immer wieder, dass gegen den Willen von Betroffenen laut geredet oder das Licht angemacht wird. Auch wenn es sicher schwer und ungewohnt ist, ohne Licht und leise zu arbeiten, bedeutet alles andere für die Betroffenen mehr Schmerz, der zum Teil Tage und länger anhält.
Und es ist eben ein Irrtum des Gesunden, dass z.B. mit Tageslicht ein besserer persönlicher Kontakt besteht. Als gesunder Mensch mag das so sein, wenn jemand lichtempfindlich ist, kann er/sie dann viel weniger zuhören und aufnehmen.
Ein weiterer Punkt ist, dass Gespräche oft beschränkt werden müssen. Das bedeutet einerseits, dass kein Raum für differenzierte Auseinandersetzungen, wirkliches Gespräch oder auch nur ein tieferes Kennenlernen ist. Die erkrankte Person kann viel weniger freundlich, einschätzbar oder kompetent wirken, als sie ist, einfach, weil sie sich so beschränken muss.
Es ist essentiell für sie, dass das Gegenüber das ebenfalls tut – was aber für Außenstehende kaum zu verstehen ist, erst recht, wenn sie aus einem Beruf kommen, wo sie gewohnt sind, selbst den Gesprächsrhythmus vorzugeben.
Zu diesem Punkt wieder wichtig: Eigentlich braucht es gut informierte Angehörige, um diese Gespräche zu führen, der Ärztin/dem Arzt die Gegebenheiten zu erklären, eventuelle Konflikte auszudiskutieren usw. usf. Sie müssen sowohl zeitlich entsprechend flexibel sein, als auch diplomatisch geschickt, und über einen Wissensstand verfügen, den der/die Behandelnde wahrscheinlich nicht hat.
Solche Angehörige haben ganz viele Betroffene natürlich nicht.
Zusätzlich sind nicht alle Behandelnden erfreut, wenn eine weitere Person beteiligt ist und es kann da nochmal auf formeller Ebene Schwierigkeiten geben, bzw. es braucht Formulare, um die Anwesenheit einer vertrauten Begleitperson möglich zu machen. Wieder eine Energieausgabe.
Dann führt ME bei vielen Betroffenen zu großen kognitiven Einschränkungen.
Der verharmlosende Name “brain fog” wird dem ganzen wenig gerecht. Einerseits scheint es sich um Schwierigkeiten zu handeln, die wir Gesunden uns vorstellen können, wenn wir uns erinnern, dass ME-Erschöpfung manchmal als Mischung von Kater, Vergiftung und Jetlag beschrieben wird. Das ist kein guter Zustand zum Denken.
Weiterhin werden Wortfindungsstörungen und dissoziative Phänomene (“ich brauchte Stunden, um zu verstehen, dass ich dieser Körper bin, dass der Durst hat, dass man den mit Wasser stillen kann und dass ich nach dem Wasser greifen kann”) beschrieben.
Es ist leicht vorstellbar, dass Menschen in solchen Zuständen nicht auf den Punkt zu komplexen Inhalten sprechen können.
Und, das ist ein letzter Punkt, der etwas weniger mit dem Organisatorischen, und dafür ganz viel mit der Krankheit ME zu tun hat: Der Arzt/die Ärztin, der/die eine*n Betroffene*n sieht, sieht die Person im bestmöglichen Zustand. In dem Moment wird Adrenalin ausgeschüttet, die Person wirkt viel fitter als sie ist, und bezahlt das hinterher mit Symptomen. Betroffene nennen das “fake energy” und Behandelnde müssten das eigentlich in ihre Urteil über die Schwere der Symptome einbeziehen – aber wie sollen sie?
Es würde also ganz viel Flexibilität brauchen, um ME-Betroffene besser medizinisch zu betreuen – von der Terminvereinbarung über die Gestaltung des Besuchts bis zu einer fließenden Kommunikation, wo man auch noch Infos nachreichen kann, und so viel mehr.
Als erstes aber braucht es Bekanntheit, damit Behandelnde überhaupt wissen, was ME ist und erfordert und sich nicht in ihrem sowieso schon vollen Alltag unnötig belastet fühlen, das ist ganz sicher keine Basis für eine gute Arzt-Patient-Beziehung.