Pflege“regeln“


Jemanden pflegen beinhaltet immer, dass sich die pflegende Person zu einem gewissen Grad an die Bedürfnisse der zu pflegenden anpasst. Das gilt, wenn man sich um kleine Babies kümmert, genauso wie bei Kranken oder älteren Menschen. In der Pflege mit ME ist die benötigte Anpassung besonders stark, weil das Nervensystem der Betroffenen so überempfindlich ist. Wenn ihre Bedürfnisse nicht sehr genau und passend erfüllt werden, können sich alle Symptome verschlechtern – vielleicht stark, und vielleicht für immer. Daher werden total viele praktische Dinge essenziell wichtig: Die richtige Temperatur im Zimmer, das Essen schnell genug, die Unverträglichkeiten beachten. Kein Licht und/oder keine Geräusche und/oder keine Berührung und/oder keine Duftstoffe. Kein Smalltalk, keine unnötigen Fragen, keine Überraschungen, keine starken Gefühle zeigen, egal in welche Richtung.

Je kleiner der Toleranzbereich des Nervensystems der/des Betroffenen ist, umso mehr müssen die Menschen in der Umgebung sich kontrollieren. Anders als im “normalen” Leben ist es hier eben nicht gut, spontanen Impulsen zu folgen oder sich Raum für die eigenen Bedürfnisse zu nehmen.

In dem Sinn ist die Beziehung in der Pflege nicht auf Augenhöhe.

Und: Pflegende haben ja auch ein Nervensystem. Das mag es auch nicht, wenn ihm der eigene Rhythmus verwehrt bleibt. Es ist ein Gegen-Sich-Selbst-Gehen, ein gewisses Maß an Unnatürlichkeit.

Aus guten Gründen, und in vielen Situationen ohne Alternative.

Aber wir müssen uns dessen bewusst sein, dass das eine Einschränkung ist, und möglichst irgendwo ein Gegengewicht schaffen. Sonst schleichen sich irgendwann Unzufriedenheit und Groll auf die Gepflegten ein. Es gibt dann schon mal das Gefühl, der/die andere sei verwähnt und bestimme alles.

So würde man das Verhalten der Betroffenen interpretieren, wenn sie gesund wären. In Beziehungen zwischen gesunden Erwachsenen existiert in irgendeiner Form ein Gleichgewicht, wo mal der eine und mal die andere mehr gibt oder mehr die Richtung vorgibt. Aber da gibt es eben keine Krankheit und keine Abhängigkeit.

Also – was tun? Die Betroffenen können sich nicht mal eben zusammenreißen, das Ungleichgewicht wird bleiben.

Mir haben folgende Dinge geholfen:

1. mir klarmachen, was für den anderen passiert und warum ich mich zurückstellen muss.

Dazu war es wichtig, dass ich immer mal wieder für mich ausbuchstabiert habe, wie es Silja ging. Sie hatte ja oft nur noch die Möglichkeit, nein zu etws zu sagen, oder zu sagen, sie habe “keine Energie”. Da war es wichtig, das immer wieder für mich zu übersetzen. Wenn ich “keine Energie” sage, heißt das irgendwas zwischen keine Lust und körperlich nicht gerade sprudelnd vor Kraft.

Bei Menschen mit ME heißt das etwas ganz anderes: Das Nervensystem ist überreizt, die Muskeln schaffen keine Bewegung mehr, womöglich haben sie Schmerzen. Silja hatte in solchen Momenten extremen Tinnitus, sie fühlte ihren Körper innerlich vibrieren, der Puls war furchtbar hoch (was automatisch eine emotionale Angstreaktion mit sich bringt), sie hatte Migränen und Bauchschmerzen. Andere Betroffene haben mir diesen Zustand als ein Gefühl von Todesangst oder feststecken im Sterbeprozess beschrieben. Man habe nicht mehr wirklich einen Zugang zur eigenen Identität und können keinen klaren Gedanken fassen.

Und man weiß nicht, wann und ob sich dieser Zustand wieder gibt.

So viel zum Thema “keine Energie”. Wenn ich mir das wirklich deutlich gemacht habe, war es oft einfacher, mich nochmal ein bißchen zurückzustellen.

2. Anerkennen, dass ich mich gerade zurückstelle und klar damit sein, dass ich es mir anders wünschen würde. Die eigenen Gefühle und Bedürfnisse sehen, selbst wenn sie gerade nicht erfüllt werden können. Ein gesundes Nervensystem kann Bedürfnisse in einem gewissen Maß vertagen. Es macht aber einen Unterschied, ob ich das innerlich übergehe und die Botschaft an mich selbst sowas ist wie “reiß Dich zusammen, es ist nunmal so”, oder ob ich mit mehr Empathie auf mich selbst eingehe, eben in Richtung “Das ist richtig ätzend, dass ich jetzt XXX tun muß/nicht tun kann. Es it vielleicht nicht zu ändern, aber ich sehe mein Bedürfnis und es tut mir leid für mich.”

3. Meinen Gefühlen einen Ausdruck geben, der Silja nicht gefährdet hat. Ich habe z. B. den Körper geschüttelt, wild getanzt oder mich laut beklagt, wenn ich außer Hörweite war. Auch Schreiben, Spazierengehen, Sport oder Singen können Wege sein, Druck abzulassen, der sich durch das Zurückhalten in der Pflege immer wieder aufbaut. Oder eine Playlist mit Songs, die zu verschiedenen wiederkehrenden Gefühlen passen.

4. In anderen Beziehungen einen Ausgleich schaffen und mich versorgen lassen. Die Asymmetrie in der Pflegebeziehung können wir nicht ändern, aber manchmal können wir andere Menschen bitten, eine Art Balance herzustellen. Dazu gehört vielleicht, bei der Arbeit Aufgaben abzugeben, im Freundeskreis mal um kleine Gefälligkeiten zu bitten oder einfach mehr als sonst zu sagen, was uns guttun würde und uns in Situationen außerhalb der Pflegesituation weniger anzupassen, als wir das sonst vielleicht automatisch tun werden. Gerade, wenn wir dem Umfeld erklären, was bei uns los ist, gehen viele Menschen darauf gern ein – das ist ja eine der wenigen Arten, wie sie uns überhaupt unterstützen können.

Was ich hierbei noch wichtig fand: Der gefühlsmäßige Ausgleich, das Empfinden, gesehen zu werden und etwas zu bekommen, stellt sich besser ein, wenn man nicht erst bittet, wenn man auf dem letzten Loch pfeift. Es ist viel nährender, etwas zu bekommen, wenn es nicht unbedingt nötig ist, sondern einfach ein Moment von Umsorgt-Werden ohne, dass es zum Überleben notwendig ist.

Prophylaktisches Verwöhnen, sozusagen. Vielleicht sollte das ein Fachbegriff werden?

Eine Einschränkung muss ich noch machen: mir ist bewusst, dass viele Pflegende keine Zeit für sowas haben, oder keine gutes Netzwerk um sich herum. Das ist furchtbar – und wieder ein Moment davon, dass unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Da können wir wieder nur unser Bestes tun, selbst gut für uns dazusein.

– Und hoffen, dass sich die Dinge in der Welt draußen vielleicht ändern, während wir drinnen unseren so wichtigen Job machen.

Das wäre mein Wunsch.