Warum ist es so schwer, mit ME Pläne zu machen?
Pläne machen mit ME – die Pflegende in mir schüttelt es allein bei der Erinnerung daran. Ich schreibe mal zunächst aus meiner eigenen Perspektive, weil ich da beispielhaft für die Umgebung jedes/r Betroffenen stehen kann.
Also: Aus Außenperspektive sehen Menschen mit ME oft erstmal unzuverlässig aus und das nervt.
Gerade, wenn eine Person moderat betroffen ist und ihre Erkrankung vielleicht noch gar nicht thematisiert hat, wirkt ihr Verhalten auf Freund*innen, Kolleg*innen und andere Menschen im Umfeld vielleicht erstmal einfach unsensibel.
Als meine Schwester Silja noch nicht wusste, dass sie eine Erkrankung hat, kam sie einfach oft als unentschieden rüber. Sie hat Besuche in letzter Minute abgesagt, brauchte plötzlich Ruhe, obwohl wir schöne Dinge gemeinsam vorhatten oder schob Entscheidungen gefühlt ewig vor sich her.
Silja hat mich oft mitten in Gesprächen unterbrochen, manchmal, wenn ich den Eindruck hatte, jetzt sei ich mal dran mit Erzählen. “Sorry, ich muss jetzt Schluss machen.” Auch wenn ich da schon wusste, dass sie erkrankt war, habe ich erst viel später den Zusammenhang hergestellt, dass sie verschiedene Beschwerden hätte bekommen können, wenn sie dem Gespräch auch nur ein paar Minuten länger gefolgt wäre. Sie hat nicht gesagt “Hey, ich kriege Migräne oder Schwindel oder Übelkeit oder muss mich hinlegen, wenn Du noch weiterredest.” Sie wusste damals noch nicht, dass das Crash genannt wird, dass es Teil von ME sein kann, dass diese Zustände dauerhafte Verschlechterungen nach sich ziehen. Sie hatte das klare Gefühl, körperlich nicht mehr zu können und hat das maximal beschrieben als “ich habe keine Energie mehr”. Mir war nicht klar, was das innerlich alles bedeutete. Ich habe es respektiert, aber nicht verstanden.
Später, als Silja schwerer betroffen war, galt diese Erklärung, “ich habe keine Energie mehr” für immer mehr Sachen. Es hat Wochen gedauert, bis Silja neue Pflegende kennenlernen konnte, oder ihre Unterschrift unter vorbereitete Unterlagen setzen konnte oder mir Informationen geben konnte, auf die Ärzt*innen oder Behörden warteten. Am Ende sind viele Dinge einfach gar nicht passiert, weil es diese Energie nicht gab. Der Lattenrost für’s Pflegebett ist heute bei meinem Vater, weil wir ihn nach 3 Monaten Rumstehen im Flur nicht zurückgeben konnten. Das Vermessen für eine Halskrause, die vielleicht Erleichterung bei einigen Symptomen hätte schaffen können, hat nie stattgefunden, weil Silja dafür eine Minute am Stück auf einem Stuhl hätte sitzen müssen.
Heute verstehe ich die Zusammenhänge: Silja hatte wie viele Menschen mit ME orthostatische Intoleranz, d.h. die Gefäße pumpen das Blut nicht so zum Herzen zurück wie bei anderen Menschen, in aufrechter Haltung wird das Gehirn deutlich weniger durchblutet, Herzrasen, Schwindel und andere Symptome bis zur Ohnmacht sind die Folge. Dem Sanitätshaus zu sagen “Ich weiß nicht, ob meine Schwester die Energie dazu hat” klingt extrem lahm. Ich wünschte, ich hätte das damals schon besser formulieren können. Und es hätte nichts daran geändert, dass alle hätten planen müssen, und es immer die Option gegeben hätte, dass es dann kurzfristig doch nicht klappt.
Ein weiterer Aspekt zum Thema “Pläne machen mit ME” ist die Tatsache, dass jede Art von Aufregung, und eben auch Sorge, aber auch Vorfreude vor einem Termin, das Nervensystem extrem in Stress versetzen. Betroffene reiten dann sozusagen auf einer Adrenalinwelle, die im Moment sehr viel Energie gibt, aber eben eigentlich ein Überlebensmechanismus für Ausnahmesituationen ist, der dann im Nachgang die Reserven noch mehr leert. Daher hat sich Silja ausgebeten, dass wir manche Dinge einfach nicht tun. Sie hatte z.B. Sorge, dass ihre Gefühle zu einem weiteren Pflegegutachten ihr schaden könnten, selbst wenn ich das Gespräch allein geführt hätte und niemand in ihre Wohnung gekommen wäre (das war damals aufgrund der Pandemie möglich). Auch das war für mich sehr schwer zu verstehen.
Eine andere Betroffene hat das mal “anticipation torture” genannt, Folter durch Vorfreude oder vorweggenommene Folter.
Ich finde fast unfassbar, was für psychische Kompetenzen das Betroffenen abverlangt: Irgendwie das Leben managen und in die Zukunft denken, planen, Dinge festlegen – aber möglichst nichts dazu fühlen, sonst klappt es nicht und gefährdet Deine Gesundheit.
Und selbst wenn das gelingt, kann immer noch jederzeit aus anderen Gründen eine Symptomverschlechterung eintreten, die es unmöglich macht, das Geplante umzusetzen.
Super.
Letztlich ist dann wahrscheinlich die Enttäuschung der Gesunden das kleinste Übel bei dem Ganzen.