Wie fühlt sich ME/CFS eigentlich an?


– ein Beitrag für Nichtbetroffene –

Es ist als Außenstehende schon superschwer, überhaupt zu beschreiben, wie sich ME anfühlt. Betroffene sagen immer wieder Dinge wie “zum Glück kannst du Dir das nicht vorstellen” oder “ich hätte mir nie vorstellen können, dass man so leiden kann”.

Ich versuche mal, das wiederzugeben, was ich verstanden habe.

Zuerst ist wichtig, zu verstehen, dass die ME-Symptomatik ein Gemisch aus verschiedenen, sich oft abwechselnden Symptomen ist (“Symptomkarussel” hat das mal jemand genannt). Manchmal kennen Betroffene die Symptome, die gerade da sind, manchmal sind sie bestimmten Auslösern zuzuordnen, manchmal kommt was Neues dazu, manchmal ist vollkommen schleierhaft, warum etwas einsetzt.

Insgesamt scheinen die Symptome in mehrere Kategorien zu fallen: Neurologisch (z. B. Migränen oder Tinnitus, Probleme mit der Regulation des autonomen Nervensystems), muskulär (verminderte Kraft, Muskelschmerz, …), kardiovaskulär (Herzrhythmusstörungen, orthostatische Intoleranz, …), immunologisch (häufige und langanhaltende Infekte, …), den Stoffwechsel (Nahrungsmittelunverträglichkeiten, gestörte Aufnahme von Nährstoffen), den Hormonhaushalt (Hypophyse-Nebennieren-Achse, …), die Atmung (Luftnot, geringe Sauerstoffsättigung des Bluts, …) oder die kognitiven Möglichkeiten (“brainfog”, Wortfindungsstörungen) betreffend.

Der Einfachheit halber unterscheide ich hier vielleicht mal drei Kategorien, nicht nach medizinischen Fachgebieten, sondern danach, wie man Symptome erlebt:

Schwäche/Energiemangelsymptome, Reizüberempfindlichkeit und Schmerz.

Daneben – und darum wird es in vielen anderen Texten noch gehen – verursacht ME natürlich große psychische Belastungen. Hier jedoch zunächst mal zur körperlichen Seite, weil die verursachend und damit allem anderen vorgelagert ist.

Bei allen Beschreibungen gilt natürlich, dass sich Symptomkonstellationen schnell ändern können und dass sie bei jedem*r Betroffenen anders sein können. Ich möchte nur eine grobe Idee vermitteln, weil das manche Erfahrungen dabei sind, die wir als Gesunde entweder gar nicht kennen, oder nicht erkennen können oder uns nicht in Kombination vorstellen können.

Ich unterscheide diese drei Kategorien, damit ich nicht der Versuchung erliege, zu denken, “Hey, kein Schmerz, dann geht es Dir ja gut.” Man kann extrem leiden, ohne dass man den Grund primär als Schmerz beschreiben würde. Dennoch gehen Schmerz, Energieproblematik und Sinnesüberlastung natürlich ineinander über.

Ich versuche einfach mal, beispielhaft zu beschreiben, was mir erzählt wurde:

Energiemangel: Die bei ME erlebte “Fatigue” ist weder eine normale Müdigkeit, noch die Erschöpfung, die man im Zusammenhang mit Chemotherapie oder Krankheiten wie MS als Fatigue beschreibt. Sie wird beschrieben als Mischung aus stärksten Grippensymptomen plus Kater plus Jetlag, also neben Entkräftung eine völlige Reizüberlastung und Desorientierung. Schwerer betroffene Menschen fühlen sich nicht nur so, als könnten sie bestimmte Bewegungen nicht machen, sie sind faktisch nicht dazu in der Lage. Sie schaffen es schlicht nicht mehr, aufzustehen, sich umzudrehen oder zu kauen. Meine Schwester Silja hatte vor ihrem assistierten Suizid die große Sorge, dass sie die Infusion bei der Sterbebegleitung nicht mehr würde aufdrehen können. Selbst so kleine Bewegungen können einem verwehrt bleiben.

Menschen, die vor ihrer Erkrankung (Leistungs-)Sportler*innen waren beschreiben ganz klare Unterschiede zwischen dem fast gesunden Empfinden von “Ich bin aktiv gewesen”, normalen Muskelkater und Ähnlichem einerseits, und der ME-bedingten Empfindungen andererseits. Letztere werden auch als Gefühl, der ganze Körper sei vergiftet oder im Sterbeprozess, beschrieben.

Also: Mit uns Gesunden bekannter Erschöpfung hat das wenig zu tun.

Was man mittlerweile weiß, ist, dass die “Erschöpfung” auf Zellniveau stattfindet, jede Körperzelle hat schlicht nicht mehr die Energie, ihren normalen Aufgaben nachzugehen. Das bedeutet, dass Menschen mit ME mehr Infekte und häufiger Krebs entwickeln (weil die Immenzellen nicht fit sind), dass sie jede Menge vegetative Symptome haben (weil das Nervensystem sich nicht reguliert), dass sie im ganzen Körper subakute und akute Infektionen haben können (siehe oben), dass das Herz mehr arbeiten muss, weil die Gefäße sich nicht normal kontrahieren usw. usw.

Alles, was ein gesunder Körper so ständig tut, tut ein von ME betroffener Körper anders. Weniger oder in ungesunden Kompensationsmodi. Neben “Symptomkarussell” eigentlich auch noch “Symptomlotterie”.

Reizüberempfindlichkeit: Das kleinste bißchen Licht tut in den Augen weh und macht Migräne. Jedes Geräusch verursacht körperliche Schmerzen. Sprechen oder Denken sind wie Waten durch den Sumpf im Nebel, unendlich anstrengend und ohne klare Orientierung. Jedes eigene Gefühl ist zu viel und verursacht weitere Symptome. Dinge, die für Gesunden minimale körperliche Unannehmlichkeiten sind – ein Grad zu kalt oder zu warm, etwas lange aufs Essen gewartet, im Schlaf gestört worden – entfachen ebenfalls einen Feuersturm an Symptomen.

Das geht oft einher mit tatsächlich extrem geschärften Sinnen. Meinen Schwester konnte z.B. ganz deutlich hören, welches Lied ihre Nachbarn in der Wohnung unter ihr gerade spielten, während ich nicht mal wahrnahm, dass Musik lief. (Ich höre nicht supergut, aber durchaus normal für mein Alter.)

Also: Alles ist zuviel. Schnelles oder lautes Sprechen. Mehrere Themen hintereinander. Geräusche aus dem Nebenraum, Bewegungen im periphären Sichtfeld. Animierte gifs, Soundeffekte, Untertitel.

Bei leichter Betroffenen Dinge, denen man außer Haus begegnet: Verkehrslärm, Gerüche in öffentlichen Verkehrsmitteln, Arbeit im Großraumbüro.

Das gesunde Nervensystem kann viele Dinge ausblenden. Das ME-System ist hypersensitiv.

Daher kommt wahrscheinlich auch der Vergleich mit dem Kater. Aus dieser Situation kennen auch Menschen, die keine ME und keine Migräne o.ä. haben, sensorische Überforderung. Ein wichtiger Unterschied ist jedoch, dass wir Kontrolle darüber haben, unsere Katersymptome auszulösen, oder nicht, und dass wir wissen, dass die Beschwerden, wie schlimm sie auch sind, bald vorbeigehen werden.

Mit ME ist man dieser Wahrnehmungsweise hilflos ausgeliefert. Immer.

Schmerzen:

Hier scheint noch mehr als bei allen anderen Symptomen zu gelten: Es gibt nichts, was es nicht gibt.

Es gibt Betroffene, bei denen Schmerzen nicht im Vordergrund stehen oder nur im Crash präsent sind. Und solche, die ständig extreme Schmerzen haben.

Ich “kenne” Menschen (auf social media), denen Kleidung so weh täte, dass sie keine tragen, und Geschichten von Betroffenen, die entschlossen sind, sich zu suizidieren, falls bestimmte Schmerzen wiederkommen, die sie schon hatten.

(Zu allen Schmerzproblemem kommt, dass aufgrund von Besonderheiten im Stoffwechsel bei vielen Menschen mit ME die gängigen Schmerzmittel nicht oder weniger wirken.)

Was die Art der erlebten Schmerzen angeht, so scheint es alles zu geben: Ständige Schmerzen im ganzen Körper, Schmerzen in einzelnen Organen die vermutlich aus Entzündungen entstehen, Migräne und Kopfschmerzen, Schmerzen im Nacken, Brennen im Gewebe, Krämpfe im Zusammenhang mit Essen und Trinken.

Also: Wenn eine Person mit ME sagt, sie habe keine Schmerzen, heißt das nicht, dass es ihr gut geht. Es kann sein, dass sie ihre Beschwerden in erster Linie nicht als Schmerz wahrnimmt. – Oder dass sie zu schwach ist, um ihre Schmerzen noch zu beschreiben.